Neue Quellen für schwarze Kultur Von Afrika bis «Black Europe»

Spätestens seit die Universitäten Sorbonne und Harvard in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zusammen Tagungen über das Thema abhielten, war klar: Wer sich für das Leben von Schwarzen, zumal von afroamerikanischen Künstlern, in Europa seit den Anfängen interessiert, durfte noch auf manche Publikation hoffen. Zwar war es damals in Paris nicht allein für Studierende spannend, von Granden der Forschung zu erfahren, wie schwarze Musiker, Sänger, Tänzer, bildende Künstler und Literaten diesseits des Atlantiks dem Rassismus der Vereinigten Staaten zeitweise entrannen. Doch selbst als berühmte Namen im Fokus standen, etwa Josephine Baker, verwiesen die Referenten darauf, dass etliche Fotos und Tonaufnahmen nicht oder nur schwer zugänglich seien. Und gerade wenn es um vergessene oder unbekannte Schwarze ging, die nach Europa kamen, waren Dokumente aller Art wünschenswert.

Text, Bild, Klang

Trotz etlichen Bemühungen in dieser Richtung – so beeindruckte die Ausstellung «Black Paris» 2007 in Frankfurt und andernorts, ebenso ein 2009 von Darlene Clark Hine u. a. edierter einschlägiger Band – blieb eine klaffende Lücke. Auch zum Verdruss des breiten Publikums, das anstelle von Zufallsfunden aus fernen oder elektronischen Archiven vielmehr eine detaillierte, anschauliche, gedruckte Darstellung oder eine erschöpfende CD-Sammlung suchte. Hier schafft nun ein grandioses Projekt namens «Black Europe» Abhilfe. Dafür holt die für ihre ehrgeizigen Veröffentlichungen bekannte Plattenfirma Bear Family (Holste-Oldendorf) weit aus. Zwei zusammen 650 Seiten umfassende, grossformatige, opulente Bücher mit über 1000 Bildern berücksichtigen Frauen und Männer afrikanischer Abstammung seit der Römerzeit; ferner liefern 44 CD mit 1244 optimal restaurierten Einzeltiteln und fast 60 Stunden Gesamtspieldauer eminent Hörenswertes von den 1880ern bis ins Jahr 1927.

Um ihre gut recherchierten Texte über Hunderte von Einzelschicksalen in diesen Breiten zu illustrieren, greifen der Niederländer Horst J. P. Bergmeier sowie die Briten Jeffrey Green und Howard Rye auf zahlreiche Medien zurück: seien es Gemälde, Zeichnungen, Karikaturen, Fotos oder Filmstills, seien es Anzeigen, Reklameplakate oder Zeitungsartikel, seien es Plattencover, Showprogramme, Streichholzschachteln oder Postkarten. Aufschlussreich sind zum Beispiel Reklamen, die zeigen, wie Marketingleute im 19. Jahrhundert Schwarze einsetzten, um Produkte tropischen Ursprungs zu verkaufen, darunter Kaffee, Tabak, Rum, Schokolade oder Bananen. Erstaunlich sind neben anderem Berichte über Schwarze, die 1902 in Berlin als Zugführer, Kunstmaler oder Musiker tätig waren. Und erschreckend sind nicht zuletzt Fotografien von «Lippenteller-Negerinnen» und Pygmäen, die als Teil «völkerkundlicher Aufklärung» während der 1930er Jahre in Biel, Frankfurt, Leipzig und Düsseldorf zur Schau gestellt wurden.

Nachgerade sensationell sind die eigentlichen Schätze des Unterfangens: die – zumeist erstmals publizierten – Mitschnitte. Dazu zählen ethnologisch orientierte Dokumente afrikanischer Sprachen, Volkserzählungen und religiöser Tonkunst. Wer beispielsweise die 1922 festgehaltenen, würdevollen Hymnen des nigerianischen Reverends Josiah Ransome Kuti hört (der Enkel Fela Kuti begründete übrigens den Afrobeat), wird sie nie vergessen. Schwerpunkte sind freilich Preziosen afroamerikanischer Musik, die alle Genres einschliessen: Spiritual, Minstrelsy, Ragtime, Music Hall, Blues, Jazz, Folk, Orchesterklänge und Tanzlieder. Einige der ältesten Nachweise für volkstümliche Klänge: Hier sind sie! Die frühesten Proben des «Stride-Piano», eines grösstenteils improvisierten Solo-Klavierstils aus den Kindertagen des Jazz: Hier sind sie! Und die ersten Belege für den rhythmischen, spontan silbenreihenden Scat-Gesang: Hier sind sie! Dem Diskografen Rainer E. Lotz und dem Toningenieur Christian Zwarg aus Deutschland sei Dank.

Man mag darüber schmunzeln, dass dem Mammutprojekt manch Kurioses einverleibt ist. Lieder, die etwa der Chauffeur des Kaisers von Abessinien, der Koch des Gouverneurs von Togo oder Kriegsgefangene aus Kongo einst zum Besten gaben, sind kein Anlass, die Musikgeschichte umzuschreiben. Demgegenüber stehen aber immer wieder kleine Entdeckungen. So ist die Virtuosität des Sängers, Banjo- und Harmonika-Spielers Pete Hampton, der zwischen 1903 und 1913 durch Europa tourte, schlicht verblüffend. Und so demonstrieren die ältesten Aufnahmen der damals 20-jährigen Josephine Baker, wie sich die angehende Diva 1926 herantastet an das Trällern, mit dem sie besonders 1934 an der Seite Jean Gabins im Film «Zou-Zou» imponierte. Begrüssenswert ist es, dass Bakers frühes Schaffen auch auf dem drei CD umfassenden Auswahl-Set «Over There!» Eingang fand, das Bear Family samt gehaltvollem Booklet anbietet.

 

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https://www.nzz.ch/feuilleton/von-afrika-bis-black-europe-1.18240263

 

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Black Europe - The Sounds And Images Of Black People In Europe- Pre 1927
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